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11/1–13/2/2020

Felder, Strukturen, StrÖmung
Lore Heuermann, Franz Stefan Kohl, Thomas Laubenberger-Pletzer, Günther Rhoosn

Vernissage Freitag 10/1/2020, 19 Uhr
Eröffnungsperformance Lore Heuermann, Thales Weilinger
Kuratorin Ingeborg Kofler

Begleitprogramm

11/1/2020, 11 Uhr, Wulfenia-Kino Klagenfurt: Sie ist der andere Blick ein Film von Christiana Perschon (AT, 2018). Filmmatinee mit anschließender Möglichkeit zum Gespräch mit Lore Heuermann.

27/1/2020, 14 Uhr Wulfenia-Kino Klagenfurt: Sondervorführung von Sie ist der andere Blick
für Schulklassen

18/1/2020, 11–13 Uhr Literaturfrühstück

23/1/2020, 18 Uhr Kuratorinnenführung

1/2/2020, 11–13 Uhr „Hausgespräch“ und Führung

 

Diese Ausstellung behauptet nichts, möchte in die Sprachen der vier KünstlerInnen kein Thema knoten, das nicht aus ihrer Kunst selbst erfahrbar ist. Der Titel klopft an die Tür der sensitiven Wahrnehmung, sucht diese für die Gestalt des Gezeigten zu öffnen und sublime Bezugspunkte für eine zusammenschauende Betrachtung zu aktivieren.

Befasst mit den Möglichkeiten der Transformation dynamischer Prozesse ins Bild, mit Fragen struktureller Bedingungen unserer Wahrnehmung und des Erlebens raumzeitlicher Vorgänge, praktizieren die KünstlerInnen ein Arbeiten in Zyklen, suchen und schätzen sie in der Variation das Moment der Veränderung.

Der Mensch als in sich gestelltes und interagierendes Wesen, die menschliche Bewegung sind ursprüngliche Motive im Werk Lore Heuermanns. Ihre Auffassung von Figuration changiert dabei zwischen einer das Volumen betonenden und einem zeichenhaften „Buchstabieren des Menschen“ (Kristian Sotriffer)1. Die hier gezeigten Glasradierungen thematisieren kontrastreich menschliche Verfassungen, das Dasein in Höhen und Tiefen, die in Strukturen sich abzeichnende Veränderung in jedem Moment. Bewegungskörper, zu linearen Kürzeln stilisiert, durchqueren die „Energiefelder“. Sie spiegeln die tiefe Zuneigung der Künstlerin zur asiatischen Kultur und geben dem Bewusstsein von Leben als ein Fließendes Gestalt. Sich gleichend nur in der Art des Vorgehens, gewonnen in unwiederholbaren zeichnerischen Prozessen. Thomas Laubenberger-Pletzer lotet in konkret-poetischen kleinen Formaten die Veränderbarkeit von Sinn und Bedeutungen, Wort- und Zeichenkonstellationen minimalistisch abwandelnd, spielerisch aus. Sein Vorgehen ist analytisch, die Zerlegung der Fläche gesetzmäßig. Studien im Vorfeld untersuchen das Verhältnis von Linien und Fläche, die Wechselwirkung ihrer aktiven und passiven Potentiale. Das Repetitive, die allmählich wahrnehmbare Veränderung in diesem, das schrittweise Entwickeln, das immer von neuem aufeinander bezogen Sein – es sind Umschreibungen, die an Franz Stefan Kohls abstrakt-geometrische Bildwelten heranführen wollen. Bewusste und unbewusste Ströme als Gleichzeitige in die Ruhe des Bildes bringend, bereitet der Maler Wege der Verfeinerung. Unterwegs im Ganzen, im Einflussbereich des Wassers findet Günther Rhoosn seinen Zusammenhang. Erlebt Verwirklichung vor Ort. Zieht.

Wir erkennen bei allen vier Positionen die Hinwendung zum Elementaren, zur wesentlichen Form des Ausdrucks, die sich vor allem in der Entsprechung des haptischen und visuellen Bildgehalts zu den inhaltlichen Ebenen zeigt. Ganz zueinander gehörig verhalten sich Tusche und Bambusfeder, das in vielen aufwendigen Arbeitsschritten handgeschöpfte Himalayapapier und Lore Heuermanns Intensität des Zeichnens von Bewegung. Wie sich auch die mit schwarzem Pigmentliner gezogenen linearen Systeme von Thomas Laubenberger-Pletzer im rein weißen A4-Karton am wirksamsten zu entfalten wissen. Keine Anlagen räumlicher Bezugssysteme im szenischen Sinn legen sich zwischen die als Malgrund gewählten Stoffe und die präzis gesetzte Malerei von Franz Stefan Kohl. Vorder- und Hintergrund oszillieren. Und es vermag der von Günther Rhoosn in die Fundformen gelegte Berührungssinn als verdichtete Erzählung aus den Flusswegen wiederzukehren. Von welcher Substanz!

Der Gedanke, eine Ausstellung zu realisieren, entstand mit ihm in Gesprächen über die neuen Ansätze in seiner Arbeit im Herbst vor zwei Jahren und gedieh, was schön ist, zu einer respektvollen Begegnung eigenständiger künstlerischer Haltungen, die in der Differenz kein Hindernis sieht.

Ingeborg Kofler, Kuratorin
Klagenfurt 2020

1 — Kristian Sotriffer, Moving On The Planet, Hg. Brigitte Borchardt-Birbaumer, Verlag Ritter 2007, S 33

 

Lore Heuermann
1937 in Münster Westfalen geboren, studierte an der Akademie der Bildenden Künste in Wien und an der Académie de la Grande Chaumiere de Paris. Grafikerin und Zeichnerin, Installations- und Performancekünstlerin. Fotografie begleitet ihr Werk. Als Dokumentation von Aktionen, wie auch als Möglichkeit, Sehen in Ausdruck zu verwandeln.

Studien- und Vortragsreisen, praktische Kunstvermittlung führten die Künstlerin nach Nordafrika, Südamerika, Mexiko, Asien und Amerika. China und Japan werden zu ihren wichtigsten Zielen. In Büchern mit eigenen Texten und umfassenden Bildmaterial, alle bei Ritter erschienen, gibt Lore Heuermann Einblick in ihr Denken und Schaffen, das wie ihr aktiv Sein in der Erwachsenenbildung und der Kunstvermittlung oder ihre langjährige Lehrtätigkeit beim Internationalen Kunstforum Millstatt, immer daran orientiert war, „lebendige Gegenströme gegen Unmenschlichkeit“1 zu entwickeln, „Impulse zur Verbesserung des Lebens und Erhöhung der Empfindlichkeit“2 zu setzen und zu gewinnen.

Lore Heuermann pflegt seit den 70er-Jahre ein kontinuierliche Ausstellungstätigkeit im In- und Ausland. Werke von ihr sind in den großen Sammlungen Österreichs vertreten. Ihr Schaffen wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Die im Verlag Ritter erschienene Monografie „Moving On The Planet“ (Hg. Brigitte Borchhardt-Birbaumer) gibt hervorragenden Einblick in Leben und Werk der Künstlerin.

www.loreheuermann.at

1 u. 2 — Vgl. Moving On The Planet, S 33

Franz Stefan Kohl
1959 in Tulln geboren, lebt und arbeitet in Wien und im Burgenland. Er führte von 1994 bis 2004 als selbständiger Unternehmer und Inhaber den „Audio Center Recordshop“, begann 1998 seine künstlerische Tätigkeit. Gründete 2002 die „galerie tonART“ in der Fischerstiege (1010 Wien), die er fünf Jahre lang betrieb. 2004/05 fungierte Franz Stefan Kohl als freier Mitarbeiter bei Radio Ö1 in der Redaktion „Spielräume“. Seit 2007 im Bereich Ausstellungsgestaltung und Arthandling tätig. Freischaffend seit 2010.

Franz Stefan Kohl befasst sich in seiner Malerei mit den Wechselwirkungen von Konstanz und Dynamik in Gestalt geometrisch-linearer Strukturen auf nicht grundierten Stoffen unterschiedlichen Materials. Seine Themen haben ihren Anlass oft in raumzeitlichen Abläufen, wie bewegte Schatten, Musik oder Tanz. Bilder entstehen immer in Serien, die je nach thematischer Ausrichtung mit übergeordneten Titeln versehen sind.

Ein für ihn ganz wichtiger Aspekt ist die Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Musik. Grundlegende bildnerische Problemstellungen wie Spannung, Rhythmus, Proportion bearbeitet Franz Stefan Kohl undogmatisch, subjektiv und erachtet Geometrie als eine selbstverständliche Möglichkeit visuellen Ausdrucks fernab einer Programmatik. In Kärnten ist Franz Stefan Kohl zuletzt 2018 bei der Ausstellung Umrahmung schräg gekippt, Die Sammlung Liaunig in Bewegung, aufgefallen. Im Jänner 2020 zeigt die Münchner Galerie Braun-Falco seine Ausstellung Lines On Raw Linen.

www.franzstefankohl.at

Thomas Laubenberger-Pletzer
1969 in Kitzbühel geboren, aufgewachsen in Zell am See, lebt und arbeitet als freischaffender Künstler in Wien, wo er von 1990 bis 1994 das Studium der Philosophie und der Kunstgeschichte und von 1993 bis 1997 das Studium der Bildhauerei bei Michelangelo Pistoletto an der Akademie der Bildenden Künste absolvierte.

Thomas Laubenberger-Pletzer versteht sich als Zeichner. Sein Medium ist die Linie als erstes, ursprüngliches Mittel bildhafter Darstellung. „Die Linie ist bildnerisch Grenze und Entgrenzung des Bildes zugleich, sowohl anthropologisch als auch visuell – mit der Linie wird der Mensch zum homo picturalis.“ (Carl Aigner)

Die Arbeiten der letzten Jahre gliedert Thomas Laubenberger-Pletzer in verschiedene, größtenteils serielle Werkgruppen: Umrisse, Konkret-Konstruktives, Schriftbilder. Dazu kommen raumbezogene, installative Arbeiten, wie zum Beispiel 2016 die Leuchtkörperinstallation lesen dürfen im Lesesaal der Akademie der Bildenden Künste sowie schriftbildhafte Leitsysteme im öffentlichen Raum.
Das raumbezogene ist in hohem Maß auch ein konzeptionelles Arbeiten, orientiert an der Notwendigkeit, eingespielte Wahrnehmungsmuster zu destabilisieren, Denken und Sehen beweglich zu halten.

Thomas Laubenberger-Pletzer wird von der Innsbrucker Galerie ArtDepot vertreten. In Kärnten war er 2019 mit den Ausstellungen u n d n u n in der Galerie w a l r a u m und b_ending id_entity in Millstatt im Rahmen von KUNSTradln präsent.

www.thomaslaubenberger.com

Günther Rhoosn
Geboren 1961 in Villach, aufgewachsen in Arnoldstein, nach Wien gezogen. Fotografie und Plastik, vornehmlich im Material Eisen, sind seine künstlerischen Medien. Ein großer Teil seiner Arbeiten entstehen während längerer Aufenthalte in Kärnten.

„Schule war Pflicht. Mein Interesse lag hinter dem Fensterglas, außerhalb des Klassenzimmers. Am Nachhauseweg, den ich mit Absicht in die Länge zog, begann Freiheit und mein Umfeld flog mir zu. Der Kopf, gesenkt, als könnte er dagegen schlagen, erfasste unmittelbares Darunter, herannahendes Davor. Formen, starr oder in Bewegung. Bilder machten Nächte unendlich. Am Morgen der gewohnte Schulgang. Das Abschlusszeugnis gab manch temporär unliebsame Arbeit vor. Der Nachbar in Besitz einer Polaroid SX70 initiierte meinen Wunsch, Bilder fest zu halten. Seit den 70ern erweitert sich mein fotografisches Album wie auch mein plastisches Werk permanent. In erster Linie werden Fundspuren, -material, themenspezifisch aufgearbeitet, als solche präsentiert. Räume fordern, disziplinieren mich, sind Teil der künstlerischen Arbeit.“ (Günther Rhoosn)

In der kontinuierlichen Ausstellungstätigkeit seit 1993 zählt für Günther Rhoosn die Zusammenarbeit mit Ingo Timmerer, dem damaligen Leiter der Galerie UnArt in Villach, zu den prägendsten und wertvollsten Erfahrungen.

Günther Rhoosn ist Mitglied des Kunstvereins Kärnten.

 

Im Rahmen der Eröffnung der Ausstellung findet eine Performance mit dem Tänzer Thales Weilinger statt.

Thales Weilinger
Geboren 1982 in Klagenfurt, 2011 Abschluss am SEAD – Salzburg Experimental Academy of Dance, Tanz- und Bewegungspädagoge, Pilates Instructor, 2012 BA für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Zahlreiche Engagements, darunter in Produktionen von Christine Gaigg, Chris Haring, Hubert Lepka und Doris Uhlich. Choreografie und Tanz von drei Soli: The pictures in my body (2014), Sisyphos’ Stein (2015) und Utopia (2017). Zuletzt Tänzer in Projekten des TanzRaumK, des UNIKUM und des Inklusiv Theater Ledenitzen. Lebt seit 2019 wieder in Kärnten.




Kleine Galerie

GÜnter Egger
Zufall, Zeit, Papier


Kurzbeschreibung
[artedition | Verlag Bibliothek der Provinz]


Der Zyklus der Buchzeichnungen ist abgeschlossen, die Spurensuche nicht. Sie beginnt mit dem Abbruch der sogenannten „Weitiza“, einer Keusche in einem Dorf im Kärntner Gailtal.

Meinen im Jahr 1877 geborenen Großvater kenne ich nur von einigen Fotografien und erhalten gebliebenen Dokumenten. Eines wurde im Jahr 1919 in Chicago ausgestellt. Es berichtet, dass er anno 1912 via Schiff von Antwerpen aus nach Amerika gereist ist, als Bottler (Flaschenabfüller) arbeitet und aus dem „former Austro-Hungarian Empire“ stammt. Als er zurückgekommen war, konnte er sich mit seinem Verdienst seinen Traum von der eigenen Keusche verwirklichen. Er kaufte die an der Schattenseite des Dorfes gelegene „Weitiza“. Daneben ließ er ein Wirtschaftsgebäude errichten.

Die „Weitiza“, so wie ich sie in Erinnerung habe, bestand aus zwei Räumen. Die Küche: Sparherd, Waschbecken mit Kaltwasser, Esstisch. Augenfällig im Schlafzimmer der Herrgottswinkel, rundum mit Partezetteln tapeziert. Darunter stand der Radioapparat. Der Kachelofen: wie ein auseinandergeschnittener riesiger Schneeball, die flache Seite unten, hie und da grüne Kacheln, die Faustkacheln, hineingedrückt. Zwei Betten. Nachtkastln: die Lade innen mit braunem Packpapier ausgekleidet, ein Wasserglas daraufstehend, in welches die rosa Zahnprothese versenkt werden konnte und auch wurde.

Der Dachboden: die Schusterwerkstatt des Onkels. Bemalte Bauernkästen, die Hochzeitstruhe der Großmutter, Schusterwerkzeug, Leisten in herrlicher Unordnung. Manchmal fand ich eine Schlangenhaut oder das beeindruckende Gebilde eines verlassenen Wespennests, die Spuren der Siebenschläfer und Mäuse. Das Plumpsklo befand sich im daneben gelegenen Wirtschaftsgebäude: zwei im rechten Winkel angeordnete Brettersitze mit kreisrunder Öffnung. Der größere Sitz für die Erwachsenen, der kleine für die Kinder. Das Toilettenpapier: geschnittenes Zeitungspapier.

Mein Onkel übernahm nach dem Tod des Großvaters die Keusche. Er lebte dort alleine.
Der Heimkehrer-Entlassungsschein, ausgestellt 1947 in Wiener Neustadt, berichtet, dass er, der Schustergehilfe, nach über zwei Jahren russischer Kriegsgefangenschaft nach Hause zurückgekommen ist. Läuse- und seuchenfrei. Heimkehrerspende 50 Schilling, Zigarettenspende 10 Stück. Er war 27 Jahre alt. Arbeit bei der Wildbachund Lawinenverbauung, Kriegsopferrente. Manchmal im Gegengeschäft für ein Essen den Dörflern die Schuhe geflickt, Brennholz aus dem Wald geholt.

Schon vor meiner Schulzeit, später dann in den Ferien, fuhren meine Mutter, meine Schwester und ich manchmal wochenlang auf Besuch zum Onkel. Bei diesen Anlässen übersiedelte er in das sogenannte „Wallfahrerzimmer“, einen bewohnbaren Raum im Wirtschaftsgebäude. Wir zogen in die „Weitiza.“
Von seiner Vergangenheit erzählte der Onkel kaum. Wahrscheinlich fragte ich ihn auch nicht danach, interessierte mich nicht dafür. Meist sprachen die Erwachsenen windisch. („Deitsche Sprache schwere Sprache: Der, Die, Das, Das Die Der Teifl hol.“) Mag sein, ihre Gespräche kreisten auch um die schlechten alten Zeiten und dass es die Kinder einmal besser haben sollen.

Meine Ferien: Freiheit. Entlassen aus der Obhut der Erwachsenen. Diese beschäftigten sich mit ihren Angelegenheiten: die „Weitiza“ frisch ausweißeln, mit einer Walze das Muster an den Zimmerwänden anbringen, die Onkelwäsche waschen, Blechwanne, Waschrumpel, das Entsaften: der Kult um den Holler. („Vor dem Holderbaum sollst du den Hut abnehmen.“) Walderd-, Waldhimbeeren, Schwarzbeeren, die Schwammerlsuche, Kürbisse. Meine kulinarischen Erinnerungen: Maiskolben in der Holzkohlenglut des Sparherds gegrillt, „Das goldene Band“, herrliche Fisolen aus dem Garten. Den Erwachsenen willkommene Unterbrechungen ihrer Tätigkeiten:
schier nicht enden wollende Tratschereien mit den Nachbarn und zahlreichen Besuchern. Wie schon gesagt, oft auf Windisch.

Manchmal schaute der Wegmacher auf seinem Moped vorbei, sein Werkzeug, die Schaufel, auf dem Gepäcksträger quer zur Fahrtrichtung eingeklemmt. Das Moped wurde zur Freude von uns Kindern beim Onkel untergestellt. Dann machte er sich pomali auf den Weg, der auf die Alm führt, um die vom Regen ausgeschwemmten Unebenheiten und Löcher zu begradigen. Hie und da ein verirrter Sommerfrischler, Besuche von Menschen, die ihren Urlaub an ihrem ehemaligen Heimatort verbrachten. Italienische, englische, französische Worte zum ersten Mal bewusst mit Begeisterung aufgeschnappt.

Expeditionen mit den Nachbarskindern in den Wald. Die Hochsitze der Jäger: ideal fürs Indianerspielen. Lianenrauchen oder zumindest so tun als ob. Versteckspiele in den Kukuruz- oder, wie die Dörfler sie nannten, Türkenfeldern. Brennnesseln. Hütten aus Ästen gebaut. Der Vorsatz, darin zu übernachten, scheiterte letztlich am Mut. Die Alten erzählten doch zu drastisch die Sage „Die wilde Jagd“ oder von den Raubrittern von Starhand. Aufgeschürfte Knie, vom Taschenfeitl verletzte Hände wurden mit Schnaps, wenn vorhanden mit „Diana Franzbranntwein mit Menthol“ desinfiziert. „Brennt ab und ist gut.“

Einen der wenigen Fernsehapparate, die es damals gab, besaß die Nachbarin. Er stand in ihrer Küche. Die halbe Umgebung kam mit einem Sessel zum Schauen angerückt. Das Nachmittagsprogramm: manchmal der „Kasperle“, abends in der „Zeit im Bild“ grausige Bilder und Berichte vom Vietnamkrieg. Der Onkel zwei Stationen mit dem Personenzug 3. Klasse ins Kino: „Jesse James – Mann ohne Gesetz“. Bei schönem Wetter, wenn die Dunkelheit hereinbrach, versammelte sich fast die ganze Nachbarschaft auf der Wiese vor der „Weitiza“, um in den Nachthimmel zu starren. Man wollte den „Sputnik“ (erster sowjetischer Satellit) vorbeifliegen sehen. Die Alten sagten beim Anblick des Sternenhimmels, die Sterne seien die Seelen der Verstorbenen.

Die Sonntage: die meisten Männer im Freien vor der Kirchentür stehend, in Tabakrauchwolken gehüllt, mit einem, besser zwei Augen nach dem Gasthaus schielend. Aus dem Kircheninneren der schleppende Gesang von Frauenstimmen, Gemurmel. Die Kirchtage: Standler. Türkischer Honig, Kokosbusserln, Blechspielzeug mit einem Schlüssel zum Aufziehen, Tiere, Panzer, Spielzeugpistolen. Die Verzweiflung darüber, wenn man das Werkl überdreht hatte.
Die verstorbenen Dörfler wurden damals zu Hause aufgebahrt. Manchmal ging der Onkel zur Totenwache, zum Beten. „Gott gib ihnen die ewige Ruh.“ Der Ortsfriedhof, ein paar Schritte von der „Weitiza“ entfernt, Schauplatz dramatischer Begräbnisse.
Die Trauergäste wurden beim Friedhofstor mit Brot empfangen. Der Friedhof selbst: nichts Gespenstisches, ein schöner, mit Liebe gepflegter Garten – zumindest bei Tageslicht. Friedhofsbesuche zu Allerheiligen, Allerseelen. Erinnerung an schneebedeckte Grabhügel. Darauf brannten Kerzen. Die verlöschten zündeten wir Kinder wieder an.

Als der Onkel nicht mehr alleine leben konnte, übersiedelte er in ein Altersheim. Die „Weitiza“ war lange Zeit unbewohnt. Ihrer bemächtigte sich der Schimmelpilz, unmöglich, sie wieder instand zu setzen. Später baute mein Schwager an ihrer Stelle seine Werkstatt. Meine Schwester fand beim Ausräumen der Keusche in der Nachtkastllade des Schlafzimmers und am Dachboden die Bücher. Sie fragte mich, was man mit ihnen machen solle. Von der Schönheit der Bücher fasziniert, verstaute ich sie in einem Karton. Erst Jahre später erinnerte ich mich an sie. Vielleicht war jetzt die Zeit reif geworden, sie in Bilder umzusetzen. Die Bücher der „Weitiza“ sind Religionsbücher auf Deutsch und Slowenisch, Schul-, Sagen-, Märchen- und Sparbücher, ein Buch über das Schusterhandwerk, Haushaltskalender … Zum Lesen damals für mich nicht von Interesse. Die Illustrationen aber mit großen Augen angeschaut. Sie auch liebend gern mit Kritzi Kratzi versehen. Die aufkommenden ausgeborgten Comic-Heftln hatten auf mich naturgemäß die stärkere Anziehungskraft.

Über drei Jahre hinweg brachte ich das, was die Zeitumstände aus diesen Büchern gemacht hatten, zu Papier. Habe sie beobachtet, belauscht. Mit Blei- und Buntstiften, Tintenblei, Aquarellfarben, Ölkreide, Deckweiß, in Mischtechnik sozusagen. Das Zeichenpapier ist einem alten Buchhaltungsbuch entnommen. Ich bemerkte, dass sich der Ordnungsraster – er dient dazu, Zahlen aufzuzeichnen, Abrechnungen zu notieren – zu von mir gewünschten graphischen Resultaten verwaschen ließ. Das konnte ich gut in meine Zeichnungen integrieren. Die Bücher selbst musste ich akribisch abbilden. Verwandelt waren sie ja. Ihren Geruch, ihre Oberflächenlandschaft, das Vergilbte, Spuren von Flüssigkeiten, das Kritzi Kratzi, Notizen, Heftklammern, Leinenstreifen, Fäden, Prägungen … wollte ich darstellen, festhalten.

Als wohlwollende Menschen bemerkten, dass ich diese Bücher zeichnete, brachten sie mir ihre Schätze. Einige davon habe ich den „Weitiza“-Büchern hinzugefügt, eines, handgeschrieben in klassischem Chinesisch, prompt verkehrt vor mich hingelegt und auch so gezeichnet.

Buchobjekte wie welke Blätter, die im Laufe der Zeit eine überraschende Poesie entfaltet haben. Fragmente, kaum noch Schriftstücke, Mischwesen: halb Zeugen menschlichen Daseins, halb bloßes Material, das sich anschickt, in den Kreislauf der Natur zurückzukehren. Diese Mischung aus Hinfälligkeit und Durchhaltevermögen erweckte in mir den Wunsch, sie zu bewahren. Sie wurden vor meinen Augen lebendig, als hätten sie die Empfindungen ihrer ehemaligen Besitzer angenommen und würden damit Zeugnis von der Existenz dieser Menschen ablegen.

Lebendig geworden ist für mich auch eine Welt an einer Zeitenwende, wie ich sie in den Ölbildern und Holzschnitten des Künstlers Werner Berg sehe. Sie erzählen von einem Menschenschlag, der an einer alten agrarischen Lebensform festhält, sich nur zögernd und allmählich von ihr löst.
Am Ende meiner frühen Jugend war ich wenig zu Gast in der „Weitiza“. Im Kofferradio hörte ich mit Hingabe Janis Joplins unter die Haut gehendes Gekreische „Oh Lord, won’t you buy me a Mercedes Benz? … Oh Lord, won’t you buy me a colour TV?“, Bob Dylan sang „The times they are a-changin’ …“
Aufbruchstimmung

(Günter Egger)


Rezensionen
Michael Ritter: Günter Egger, „Der die das Bücher“

Ein Kunstbuch über Bücher zeigt faszinierende Zeichnungen von alten Büchern, die viel über die papierne Kultur der Schrift berichten können.

In einer ausführlichen Einleitung berichtet der österreichische Künstler Günter Egger vom Zustandekommen des vorliegenden Buches. Der kleine Hof des Großvaters ist der Ausgangspunkt, erbaut vom in Amerika verdienten Geld, und dann vom alleinstehenden Onkel bewohnt – so lernt Egger ihn als Kind kennen. Als das Haus dann später abgerissen werden muss, bleiben die Bücher übrig, die Egger nachhaltig faszinieren. Er beginnt sie zu zeichnen und erhält nun immer neue Objekte, die eben diese Faszination stützen und weitertreiben. Das vorliegende Kunstbilderbuch zeigt nun diese Bücherbilder. Auf weitem Weißraum ist immer ein Buch auf der rechten Seite der Doppelseiten zu sehen, das auf einem Papier liegend fast fotorealistisch abgebildet ist. Technisch beschreibt Egger seine Arbeiten als Mischtechniken: Blei- und Buntstifte, Tintenblei, Aquarellfarben, Ölkreide, Deckweiß. (siehe Vorwort). Das Ergebnis sind Bilder, die die Bücher fast greifbar aus dem Untergrundpapier heraustreten lassen. Die Details und die Spezifik der alten, zum Teil sehr zerstörten und zerfallenen Bücher, die Details, die Egger in den Blick rückt, richten den Fokus auf das Besondere der papierenen Buchkultur. Im Zeitalter der Digitalisierung werfen sie die Frage nach der Spezifik des Buchartigen und der analogen Ästhetik neu auf. Ohne begleitende Worte vermag das Buch dann auch zu faszinieren und Einblicke zu geben, die aufgrund ihrer virtuellen Haptik beeindrucken. Es richtet sich als Bilderbuch sicherlich eher an erwachsene Lesende und Betrachtende, ist diesen aber nachhaltig zu empfehlen.

(Michael Ritter, für die Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur und Medien der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft [AJuM der GEW] Landesstelle Sachsen-Anhalt vom 28. März 2019)

 

 

 

 


Lore Heuermann, aus dem Zyklus Energiefelder, 2006 – 2010, Bambusfederzeichnung auf handgeschöpftem Himalayapapier mit Tollkirschen gefärbt,
175 x 100 cm


Lore Heuermann, aus dem Zyklus Alte Rituale und neue Programme, 1987, Glasradierung, Plattengröße 70 x 50cm

 


Franz Stefan Kohl, Recurrent Lines On Related Fields #5, 2017
Acryl auf Leinwand und Buchleinen; Baumwollstoff, 7-teilig, 130 x 180 cm


Franz Stefan Kohl, Recurrent Lines On Related Fields #3, 2017
Acryl auf Leinwand und Buchleinen; Baumwollstoff, 7-teilig, 130 x 180 cm

 

Thomas Laubenberger Pletzer, eingang 101, 2019, Pigmentliner auf Karton, je 29,7 x 21 cm

Thomas Laubenberger Pletzer, arrow 105, 2019, Pigmentliner auf Karton, je 29,7 x 21 cm

 

Günther Rhoosn, Regen, 2019

Günther Rhoosn, Schaufelblatt, 2019


 

Günter Egger, Buch 1, 2015/16, Mischtechnik, 42 x 32,5 cm

 

Günter Egger, Buch 3, 2015/16, Mischtechnik, 42 x 32,5 cm

 

Günter Egger, Rahmen, 1996/97, Radierung, 24,5 x 29,7cm

 


Günter Egger, Mulischaedel, 1979, Radierung, 25 x 10 cm